kurzgeschichte

momentaufnahme - der traum vom tanzen

Es herrscht Stille im Saal, nur das rhythmische Geräusch aufschlagender Spitzenschuhe durchdringt die angespannte Ruhe. Ich sitze auf dem Boden und betrachte meine ausgestreckten Beine. In meinem Kopf gehe ich immer wieder die Abfolge der Choreographie durch: Arabesque, Chassé links, battement, jeté. Die Stimme meiner Ballettlehrerin dröhnt in meinen Ohren «Anna deine Füsse, point, point». Reflexartig strecke ich meine Füsse. Jahrelang habe ich auf diesen Moment hingearbeitet. Seit ich denken kann, dreht sich mein Leben um genau etwas; Ballett. Nun sitze ich hier, umzingelt von hunderten anderen Mädchen, die alle das gleiche wollen; einen Ausbildungsplatz am Royal Ballett in London.

 

Mit dem Tanzen habe ich vor 12 Jahren begonnen, damals war ich vier Jahre alt. Meine Mutter war besorgt darum, dass ich die richtige Haltung lerne. Ballett schien für sie die perfekte Möglichkeit mir die grundlegenden Werte zu lehren; Haltung und Disziplin. Das kleine Mädchen konnte nicht ahnen, dass Ballett schon bald mehr als eine Freizeitbeschäftigung sein würde. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob es meine Idee war, oder ob es mir so lange vorgeplappert wurde, bis ich es selber wollte, aber ich wusste, ich wollte Balletttänzerin werden. Seither richtet sich alles in meine Leben nach diesem Ziel. Im Alter von acht Jahren trainierte ich bereits fünfmal die Woche und am Wochenende standen Auftritte und Wettbewerbe auf dem Programm. Mit 12 verliess ich meine Heimatstadt Hamburg, um auf ein Internat nach England zu gehen, damit ich mich noch besser auf das Tanzen konzentrieren konnte. Jetzt vier Jahre später bin ich meinem Ziel zum Greifen nahe, doch wenn ich mich in diesem riesigen Raum umschaue, scheint es entfernter denn je. 

 

In den Gesichtern der anderen Tänzer spiegelt sich meine Anspannung wider. Hochkonzentriert gehen sie die Schrittabfolgen ab, drehen ihre Pirouetten oder prüfen ob ihre Wettbewerbsnummern noch richtig sitzen. Ich blicke ungeduldig auf die grosse, tickende Uhr hoch über meinem Kopf, noch fünf Minuten. Ich erhebe mich und setze zu einer letzten Pirouette an und durchlaufe die Choreographie ein letztes Mal in meinem Gedächtnis. Zum dritten Mal prüfe ich, ob die Schnürung meiner Spitzenschuhe straff genug ist und streiche mein Tanztrikot glatt. Die Tür des Saals öffnet sich. Ein Mann mit einer Liste betritt den Raum. «Anna Maria Landberg», wird mein Name aufgerufen. Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel und bewege mich wie in Trance zur Tür. 

 

Das Tuscheln der Juroren verstummt, als ich lächelnd den Raum betrete. Ich atme tief durch und positioniere mich in der Mitte des Raumes. Meinen Blick nach vorne gerichtet breite ich meine Arme aus und bringe meine Füsse in Position. Die ersten Töne des Klaviers hallen durch den Raum und ich beginne zu tanzen.