Porträt

wo ist heimat ?

Der Geruch von frischem Brot erfüllt die offene Wohnküche. Aus dem DAB-Radio schallt leise Volksmusik im Hintergrund. Auf dem Esstisch stehen noch die Noten von Stille Nacht, daneben liegt eine Mundharmonika. Die Wand ist von Regalen gesäumt, neben einem Atlas reihen sich Kochbücher und Gartenratgeber ordentlich aneinander. Die weissen Wände sind kahl, denn auf der Kücheninsel und auf dem Fensterbank warten Familienfotos und Kinderzeichnungen darauf aufgehängt zu werden. Durch die Terrassentür erstreckt sich die Sicht ins Grüne, über die Veranda und den riesigen Garten. Der Himmel ist grau und Regentropfen trommeln gegen die Fensterscheiben. Doch Drinnen, auf der Ofenbank ist es wohlig warm. Alearco Fabbro steht mit gekrümmten Rücken über den Ofen gebeugt in der Küche und späht in den Ofen. Die rote Lesebrille sitzt schief auf seinem Hinterkopf. Er richtet sich wieder auf und meint, während er die mehligen Ofenhandschuhe zur Seite legt, «dem (Brot) geben wir noch zwei Minuten» und lächelt mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht an. Alearco Fabbro ist mein Grossvater, oder besser «Nonno», der beste Brot- und Pizzabäcker im Fricktal, leidenschaftlicher Gärtner und stolzer Grossvater von 12 Enkeln; ein «Bünzli»-Schweizer wie aus dem Bilderbuch. Es erinnert nicht mehr viel an seine alte Heimat Italien, doch hat sie ihn geprägt.

 

Alearco Fabbro wurde am 2.Mai 1950 in der kleinen Gemeinde Aviano, in der norditalienischen Provinz Portenone, eineinhalb Stunden von Venedig entfernt, geboren. Damals prägten kleine Bauernhöfe die Landschaft, doch die Idylle wurde schon damals von einen US-Militärflugplatz überschattet. In der Erinnerung meines Grossvaters hatten alle Familien ein kleines Stück Land, welches sie bewirtschafteten und ein paar Kühe. «Das war unsere Überlebensstrategie» so Fabbro. Im Winter sei es bei den Kühen immer am wärmsten gewesen erinnert er sich und lacht. Um dem einfachen Leben zu entfliehen verliessen die Männer die Familien und arbeiteten in den nahegelegenen Metropolen Milano oder Venedig als Saisonarbeiter. Auch die Familie meines Grossvaters war keine Ausnahme; bereits mein Ururgorssvater arbeitet in Venedig als Gepäckträger. 

 

Auch Alearco Fabbro wuchs grösstenteils ohne Vater auf, dieser verliess Italien bereits vor der Geburt Alearcos, um in Pratteln für den schweizerischen Lifthersteller Schindler zu arbeiten. So begann für den kleinen Jungen ein jahrelanges Hin- und Her zwischen den beiden Ländern. Bereits im Alter von knapp einem Jahr reiste die kleine Familie das erste Mal gemeinsam in die Schweiz. Der Aufenthalt war jedoch auf drei Monate begrenzt, da die Schweiz den Gastarbeitern den Familiennachzug verbot. Fortan pendelte mein Grossvater zwischen der Schweiz und Italien. Zurück in Italien wurde er abwechselnd bei verschiedenen Verwandten untergebracht. Unteranderem auch bei seinem Onkel, welche für ihn die Rolle eines Vaters übernahm. Die ewige Reiserei hatte ein Ende als Alearco die dritte Klasse erreichte und die Familie beschloss in die Schweiz zu ziehen, wo die Mutter Fabbros fortan in einer Strumpffabrik Arbeit fand. Doch der Alltag in der Schweiz gestaltete sich als herausfordernd. «Ich war natürlich der Einzige» meint mein Grossvater und wendet den Blick ab. Als einziger Ausländer war es nicht einfach in einem neuen Umfeld. Er habe gelernt «ufs Muul zhocke», wenn ihm etwas nicht passte. Sonst hiess es «dann geht doch wieder zurück», erzählt mein Grossvater schulterzuckend. In der Schweiz waren die italienischen Gastarbeiter nicht willkommen und wurden offen diskriminiert. Sie arbeiteten unter miserablen Bedingungen und an Eingängen von Gastwirtschaften wurden Schilder mit der Aufschrift «Für Hunde und Italiener verboten» angebracht.

 

Das Zurückkehren in die Heimat bleib lange einen Traum vieler italienischer Einwanderer. Auch mein Grossvater träumte in seiner Jugend oft davon wieder nach Hause zu gehen. Er sehnte sich zurück in seine frühe Kindheit, wollte Bauer werden und seinem Onkel helfen die Felder zu bestellen. Aber auch seine Eltern sprachen ständig vom Heimkehren. In der Schweiz waren sie nie angekommen, sie waren hier nur um zu arbeiten, für andere Dinge fehlte die Zeit und wohlmöglich auch die Kraft. So kam auch mein Grossvater oft zu kurz. Es wurde Land in Italien gekauft und ein Haus gebaut, aber zurückgekehrt sind sie nie. «Es wurde immer nach hinten verschoben», erklärt Nonno, «nachdem du eine Ausbildung gemacht hast», wurde er vertröstet. So schloss er eine Lehre als Mechaniker ab. Aber je länger die Rückkehr herausgeschoben wurde, desto weiter rückte sie in die Ferne. Denn auch Italien hatte sich verändert und so wurde die Heimat ebenfalls fremd. «In Italien brauchst du ein Netzwerk» erklärt mein Grossvater, «ohne kommst du nicht weit» und genau dieses Netzwerk fehlte meinen Urgrosseltern. 

 

Im Vergleich zu seinen Eltern, die in der Schweiz nie heimisch wurden, baute sich mein Grossvater hier ein Leben auf. Mit 18 Jahren lernte er meine Grossmutter kennen. Das sei das Beste, das ihm je passiert sei, betont mein Grossvater. Er wendet den Blick ab und lässt ihn in die Ferne schweifen. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, doch seine Augen sind voller Wehmut. Denn meine Grossmutter starb vor zwei Jahren völlig unerwartet an den Folgen eines Fahrradunfalls. Der Schmerz sitzt tief, doch er ist ein Kämpfer, war es schon immer. Er räuspert sich und spricht weiter. Dank meiner Grossmutter fand er in der Schweiz eine neue Heimat. Meine Grossmutter war Schweizerin, unterstützte ihn und gab ihm die Stabilität, welche ihm in seiner Kindheit stets fehlte. Zusammen bauten sie mit 23 Jahren ihr Eigenheim, «das, war das erste Mal, dass ich mein eignes Badezimmer hatte» ergänzt mein Grossvater ganz nebenbei. Die Zimmer, welche er mit seinen Eltern bis dahin bewohnt hatte, waren «Bruchbuden», im Winter war es kalt, im Sommer zu heiss. Einmal in der Woche habe er bei den Nachbarn ein Bad nehmen dürfen, erzählt mein Grossvater als wäre es das normalste der Welt. Auch ein grosser Garten gehörte zum Grundstück, welches mein Grossvater bebauten, und so konnte er sich auch seinen Kindheitstraum des Bauerns in etwas kleinerer Form erfüllen. Mein Grossvater wurde Vater von vier Kindern, drei Mädchen und eines Jungen. Mit der Gründung einer eigenen Familie erfüllte sich mein Grossvater einen weiteren Wunsch. Als Einzelkind sehnte er sich immer nach Gesellschaft, wenn seine Eltern arbeiteten. Nun war immer «etwas los» im Hause Fabbro. Auch die Grosskinder liessen nicht lange auf sich warten, mit 53 Jahren wurde er das erste Mal Grossvater und in den Jahren darauf folgten 11 weitere Enkel. Die Grosskinder kommen immer gerne ihren Nonno besuchen, denn es gibt immer etwas zu «feines»; ob eine köstliche Pizza, ein frisches Brot oder eine neue Kuchenkreation, welche immer wieder optimiert werden.  

 

Heute erinnert nichts mehr an die italienischen Wurzeln. Die Heimat ist Alearco Fabbro heute fremd. Wenn Italien Thema ist, dann geht es oft um die schlechte wirtschaftliche Lage oder die erschlagende Bürokratie, welche den Hausverkauf zu einem nervenaufreibenden Abendteuer werden liess. Bei allem Ärger schwingt auch immer eine Prise Enttäuschung mit, denn die emotionale Verbundenheit mit dem Land aus der frühen Kindheit bleibt. Mein Grossvater offenbart keinen Hinweis auf seine südländische Herkunft. Er spricht aktzentfrei schweizerdeutsch und als ich ihn als kleines Mädchen bat mir Italiensich bei zu bringen, winkte er ab, er spreche nur einen firulischen Dialekt, Italienisch würde er nicht beherrschen. Doch das gute Essen hat er aus Italien mitgebracht und dass kann er nicht abstreiten. Alearco Fabbro blickt auf die grosse Wanduhr und schreckt auf und lacht «oh, jetzt haben wir das Brot vergessen».